Dis Appearances

2003

Katalog
Ausstellung der Klasse Medienkunst, Universität der Künste Berlin, im Kommunikationszentrum der Adam Opel AG Berlin

Herausgeberin: Maria Vedder
Verlag der Universität der Künste Berlin
Künstlerischer Mitarbeiter: Dominik Busch
Produktionsleitung: Katrin Alt
Gestaltung: Pierre Becker, Nikolas Moeller, Stephanie Piehl

mit Arbeiten von:
Javier Benitez
Dominik Busch
Julieanne Eason
Julia Erzberger
Laura Geiger
Niklas Goldbach
Simone Häckel
Baris Hasselbach
Jesse Jagtiani
Erik Klingbeil
Christoph Konradi
Kolja B. Kunt
Thomas Ladenburger
Alejandro Lecuna
Jana Linke
Christian Meinke
Nikolas Moeller
Astrid Menze
Patrick Palucki
Amy Patton
Filippos Petridis
Claudia Rohrmoser
Isabelle Schmidt
Simon Specht
Eliane Schott
Maria Vedder
Elmar Vestner
Juliane Zelwies

„Die Ausstellung bezieht sich auf das Thema des Verschwindens und damit auf einen Begriff, der in medientheoretischen Diskussionen fast inflationär in Gebrauch ist. Allerdings geht es in der Mehrzahl der ausgestellten Arbeiten weniger um ein postmodernes Zelebrieren vom Verschwinden als darum, die medialen Bilder auf ihre gestalterischen und erzählerischen Möglichkeiten zu befragen.
Etwas sophisticated könnte man hier von einer Art Wiederkehr der Bilder aus dem Geist des Verschwindens sprechen. Dies klingt auch in der Wahl des englischen Ausstellungstitels an. Denn Dis Appearances spielt viel stärker als der deutsche Begriff mit der Dialektik von Verschwinden und Erscheinen. Die präsentierten Videoinstallationen, interaktiven Objekte, Filme und Fotografien zeigen eine, man könnte sagen, post-postmoderne Perspektive auf, sie repräsentieren einen Blick, der die Debatten um Simulation und virtual reality längst verinnerlicht hat und nun darangeht, Wahrnehmungsbedingungen und die Erfahrung von Wirklichkeit(en) in einer durch und durch mediatisierten Kultur mit bildnerischen Mitteln zu ergründen.“

„Vom Verschwinden und vom Schwindel(n)
Das Verschwinden ist eine Bewegung auf einen Nullpunkt, eine Leere hin. Etwas verschwindet, das meint: etwas vergeht, löst sich auf. Markiert wird ein zeitlicher Vorgang zwischen dem, was war und dem, was sein wird, wenn das Verschwindende endgültig verschwunden ist – ein festgehaltener Augenblick zwischen einer noch nicht vergangenen Vergangenheit und einer schon gegenwärtigen Zukunft.

Interessanterweise hängt das Verschwinden etymologisch eng mit dem Schwindel zusammen, einem mentalen Zustand, in dem die Dinge ihre Festigkeit verlieren und in Auflösung begriffen sind. Wie das Verschwinden zeichnet sich auch der Schwindel durch einen transitorischen Charakter aus, einen Schwebezustand zwischen Wachsein und Ohnmacht. In diesem Zusammenhang ist auch die zweite Bedeutung von Schwindel im Sinne einer „kleinen Lüge“ aufschlussreich, denn das Wort schwindeln bezeichnet eine hybride Aktivität: wer schwindelt, verlässt zwar den „festen Boden“ der Wahrheit, ist aber noch kein Lügner…

Das hier kurz skizzierte semantische Feld erschließt wesentliche Aspekte der elektronischen Bildtechniken. Deshalb soll im Folgenden etwas genauer nach den zunächst eher disparat erscheinenden Dimensionen des Verschwindens und des doppeldeutigen Schwindels gefragt werden.

Die Dialektik von Verschwinden und Erscheinen
Der Begriff des Verschwindens ist in kulturtheoretischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte beinahe inflationär in Gebrauch. Die Konjunktur des Begriffs seit den frühen 1980er Jahren fällt dabei nicht nur zeitlich mit der Entwicklung neuer Medientechnologien wie Computer, Internet, Digitalisierung etc. zusammen. Das Postulat des Verschwindens taucht auch meist in direkter Auseinandersetzung mit den neuen (Bild-)Technologien auf. Ob in diesem Zusammenhang über ein Verschwinden der Arbeit (1), der Öffentlichkeit (2) oder der Kindheit (3) diskutiert oder aber ganz grundlegend ein allmähliches Verschwinden der Wirklichkeit (4) und des Menschen (5) prognostiziert wird, immer werden die digitalen Medien ins Feld geführt, um einen fundamentalen Wandel in unserer Auffassung und Einschätzung der Welt und den Dingen gegenüber zu begründen. Die Argumentation ist hinlänglich bekannt: Durch die digitalen Simulations- und Visualisierungstechniken verschwindet das, was wir bis dahin als Wirklichkeit zu denken und erleben gewohnt waren. Die „wirkliche Welt“ wird zunehmend überlagert und ersetzt durch einen Strom von Daten, ein Netz von Zeichen, eine Art Hypertext, der die Idee der Repräsentation als Widerspiegelung eines Wirklichen verabschiedet. Realität wird vom Fernsehen gemacht. Jenseits des Bildschirms behauptet sie sich allenfalls noch als Insel im Reich des Möglichen und ist selbst legitimationsbedürftig geworden.

Zu fragen ist, ob die Rede vom Verschwinden sich tatsächlich im Benennen eines Entschwindenden erschöpft oder aber selbst konstituierende Wirkung besitzt. Mit anderen Worten: ist der Blick zurück tatsächlich ein konstatierender Blick auf das, was war oder handelt es sich dabei immer auch um einen produktiven Blick, der das noch einmal zurückholt, wovon er sich wehmütig oder auch euphorisch verabschiedet? Im konkreten Fall bedeutete dies, dass die Rhetorik vom Verschwinden einherginge mit einer Rhetorik des Erscheinens.

Die diesjährige Ausstellung der Medienklasse von Maria Vedder im Opelgebäude an der Friedrichstraße thematisiert diesen double-bind bereits im Titel. Denn Dis Appearances spielt, anders als das deutsche Begriffspendant, mit der Doppeldeutigkeit von Verschwinden und Erscheinen. Narrative Strategien, die Reflexion über Wahrnehmungs- und Lektüregewohnheiten und ein häufig bewusst minimalistischer Umgang mit technischen Standards bestimmen einen Großteil der ausgestellten Filme und Installationen. Die Bilder werden als Erscheinungen – appearances – ernst genommen und auf ihre gestalterischen und/oder erzählerischen Möglichkeiten befragt. Etwas sophisticated könnte man hier von einer Art Wiederkehr der Bilder aus dem Geist des Verschwindens sprechen. Ein post-postmoderner Blickwinkel, der die Debatten um Simulation und virtual reality längst verinnerlicht hat und nun darangeht, Wahrnehmungsbedingungen und die Erfahrung von Wirklichkeit(en) in einer durch und durch mediatisierten Kultur mit bildnerischen Mitteln zu ergründen.

Das gilt in besonderem Maße für die Filme der Medienfassade des Opel-Gebäudes, die neben den Installationen im Gebäude eine eigene Sektion im Rahmen der Ausstellung bilden. Einige dieser Filme beziehen sich ganz explizit auf gängige Präsentationsformen der Produktwerbung und subvertieren diese zugleich, indem sie den Betrachter als Objekt der Darstellung zum Thema machen. Im Video Zeitzeugen von Julia Erzberger beispielsweise werden Menschen gezeigt, die aus einem Fenster blicken. Ihre Blicke treffen sich mit denen des Passanten auf der Straße, ein Blickkontakt entsteht, der anders als die Plakatwerbung keinen Mehrwert in Form eines begehrlichen Artikels besitzt, sondern den Betrachter selbst als Objekt des Begehrens adressiert. Mit diesem Voyeurismus der Wahrnehmung spielen auch Isabelle Schmidt und Juliane Zelwies in Coming Out. Hier kehrt eine auf die Medienfassade projizierte Menschengruppe, die in Mimik und Gestik die Aufmerksamkeit des Betrachter zu erringen sucht, die Rollen von Betrachter und Betrachtetem um: Die dargestellte Gruppe wird zum Publikum, die Straße zur Bühne.

Andere Arbeiten führen eine Fragmentierung der Bilder vor und verweisen damit auf einen Verlust von Ganzheit und Kohärenz. Die Welt ist nur noch ausschnitthaft zu haben, in fragmentarischen Schnipseln, die wie beim Blick durch ein Kaleidoskop immer neue Relationen und Verbindungen eingehen. Elmar Vestner zerlegt in 168 Gründe sein Porträt in Einzelsegmente. Die Fragmentierung wird zum Ausgangspunkt einer Selbstbefragung, die die Problematik der Identität reflektiert. Während hier das Ich in seiner Fragmentierung als imaginäres Kraftfeld mit offenen Grenzen inszeniert wird, geht es in der Arbeit WebEgo von Kolja Kunt um das Ich im Plural. Die Installation zeigt eine Vielzahl von Gesichtern, die Kunt bei Eingabe des Suchbegriffs „Ich“ im world wide web gefunden hat. Namenlose sind auch die Protagonisten in dem Film Noloko von Claudia Rohrmoser. In der Inszenierung menschlicher Körper, die wie Marionetten an Fäden bzw. die Bewegung steuernden Linien zu hängen scheinen, stellt die Arbeit auf poetische Weise nicht nur die Ganzheit und Kohärenz des Individuums in Frage, sondern auch dessen Autonomie.

Mit der Entgrenzung, Verdinglichung und Spaltung des Subjekts greifen die genannten Filme ein Thema auf, das die europäische Geistesgeschichte seit der Renaissance in immer stärkerem Maße geprägt hat. „Wir sind alle aus lauter Flicken und Fetzen und so kunterbunt unförmlich zusammengestückt, dass jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt. Und es findet sich ebensoviel Verschiedenheit zwischen uns und unsselber wie zwischen uns und den anderen“, schreibt Michel de Montaigne in seinen berühmten Essais bereits 1580 (6) – ein Befund, der heute in jedem psychologischen Handbuch nachlesbar ist und eine fundamentale Befindlichkeit des Subjekts im Informationszeitalter beschreibt. „Ich ist ein Anderer“ – unter diesem Motto Rimbauds steht auch Christoph Konradis interaktive Installation mit dem sperrigen Titel advaita-nichtzweiheit. In der Tradition von Dan Grahams Studien zu Zeit und (Selbst-)Wahrnehmung sieht sich der Betrachter in ein irritierendes zeitliches Kontinuum aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingebettet.

Im Unterschied zu diesen eher philosophischen Betrachtungen zeigen andere Arbeiten einen teils ironischen, teils lapidaren Umgang mit dem Verschwinden. In Jesse Jagtianis What’s the score? wird ein Paternoster zum Schauplatz ein- und aussteigender Menschen, eine, wie die Künstlerin es nennt, „Persiflage auf Bürohengste und Agenturfuzzis“. Juliane Zelwies präsentiert in der Installation Stubenhocker kleine, unscheinbar im Raum verteilte Überwachsungsmonitore, auf denen Höhlen-, Nest- und andere Eingänge von tierischen Behausungen zu sehen sind. Die Schlupflöcher verweisen auf Absenz, spielen aber auch mit der Erwartungshaltung des Betrachters, dass darin etwas erscheinen möge. Ebenfalls im Spannungsfeld von Verschwinden und Erscheinen situiert sich die Videoprojektion Surfing von Maria Vedder. Sie zeigt einen entspannt im Wasser schwimmenden Mann in Rückenlage, der immer wieder von über ihm zusammenschlagenden Wellen verdeckt wird. Die ruhige, fast meditative Darstellung erhält auf diese Weise eine existenzielle Dimension: das Abtauchen in die Tiefe könnte jederzeit auch ein endgültiges sein…

Bilder – Lügen?
„Und während die ewige Auseinandersetzung sich um die Erscheinung von Wahrheit und um die Wahrheit selbst dreht, ist die Simulation die einzige Wahrheit, auf die wir uns verlassen können.“ (7)

Dass das Kamera-Objektiv keinesfalls eine wie auch immer definierte „objektive Wirklichkeit“ einfängt, sondern diese immer (mit-)konstruiert, gehört zu den Gemeinplätzen aktueller Mediendiskussionen. Angesichts der rapide sich entwickelnden Techniken der Simulation und „künstlichen“ Bilderstellung kann jedes Bild und jede Repräsentation als potenzielle Fälschung angesehen werden. Alles ist machbar, nichts ist mehr echt. Die Opposition von Schein und Sein wird obsolet in der „Agonie des Realen“. (8) So geht es heute denn auch weniger darum, Bilder in ihrem Verhältnis zu einer ausserbildlichen Realität (sofern von einer solchen noch gesprochen werden kann) zu betrachten. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage nach der Wahrheit des Bildes, das heißt nach dessen Funktion als kulturelles Artefakt wie auch als Produzent zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeiten. Wie funktionieren Bilder, was erkennen wir und vor allem wie erkennen wir was wir sehen?

In diesem Kontext gewinnen die ästhetischen Praktiken der Aneignung medialer Codes aus Film und Fernsehen ihre spezifische Bedeutung. Das „So ist es gewesen“, das Roland Barthes zum Prädikat der Fotografie erhoben hatte, wird durch den subtilen Einsatz digitaler Techniken unterminiert. Nicht die Erzeugung virtueller Welten steht dabei auf dem Programm, sondern das Aufzeigen einer komplizierten Kette der Repräsentationsmechanik, die in bereits existierenden und medial vermittelten Bildern ihre sujets findet.

In diesem Sinne befragt Niklas Goldbach in Les Hommes die medialen Prozesse der Bildproduktion. Das Video zeigt ekstatisch wirkende Männergesichter in extremer Zeitlupe. Den vier Porträts liegen zwölf Stills aus Pornofilmen zugrunde, die ineinander gemorpht und digital nachbearbeitet wurden. Nicht zuletzt durch die Übertragung in den schwarz-weiss-Modus wirken die stilisierten, ästhetisch glatten Bilder wie Ikonen der Konsumwerbung à la Calvin Klein. In einer Art doppeltem Trompe-l’oeil-Effekt wird hier reproduziert, was selbst schon Imitat ist: in mimetischer Perfektion gestaltete Surrogate eines durch die Werbeindustrie formatierten Begehrens.

Ebenfalls mit der Technik des Morphing arbeitet Javier Benitez in Nach Rimbaud. In einer fiktiven Reportage zeigt der Film vier junge Mädchen, die über ihr Leben als Prostituierte und von ihren Träumen eines besseren Lebens erzählen. Erst bei genauerer Betrachtung wird ersichtlich, dass jedes der Mädchen ein digitales Konstrukt ist. Zusammengesetzt aus Fragmenten unterschiedlicher Frauen- und Mädchengesichter verweigern diese Porträts einen Blick in die Tiefe. Das Geheimnis dieser Bilder ist das Sichtbare, nicht eine vermeintliche Authentizität dahinter.

Auch Christian Meinke manipuliert sein Bildmaterial. In Sweet Green verändert er Aufnahmen der Friedrichstraße auf eine Weise, dass aus „realen“, direkt vor dem Ausstellungsgebäude gefilmten, Gegebenheiten unwirkliche Momente und Strukturen entstehen. Der Betrachter, der die aufgenommene Situation unmittelbar vor Augen hat, mag Vergleiche ziehen zwischen der Wirklichkeit des Bildes und der Wirklichkeit der Straße vor seinen Augen…

Schwindelgefühle – Zeit und Bewegung
Während das Verschwinden in den oben dargelegten Bedeutungsaspekten für die Mediendiskussion der vergangenen Jahrzehnte eine geradezu leitmotivische Funktion besitzt, scheint der etymologisch verwandte Begriff des Schwindels im Sinne des Verlusts einer klaren raum-zeitlichen Selbstverortung in diesem Zusammenhang zunächst weniger nahe liegend. Das ändert sich, wenn man die zeitliche Dimension der neuen visuellen Medien in Erwägung zieht. Das gepixelte Bild ist vor allem ein Bild in Bewegung, das mithilfe der elektronischen Kommunikationswege Räume und Zeiten überwindet: Verschwinden der Ferne im Hier und Verschwinden der Zeit im Jetzt. Nichts ist endgültig, alles ist im Fluss…

Eine ganze Reihe von Medientheoretikern von Jean Baudrillard über Peter Weibel bis Paul Virilio haben die Beschleunigung der technischen Bilder auf ihre Konsequenzen für die Wahrnehmung befragt. Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang Virilios Formel einer „Ästhetik des Verschwindens“, die sich nicht nur auf eine Auflösung des materiellen Status des Bildes im elektronischen Zeitalter bezieht, sondern auch und vor allem auf eine behauptete „Entkörperlichung“ der Wahrnehmung in einer mediatisierten Kultur: „Zusehends beginnt alles sich zu bewegen, das Sehen löst sich allmählich auf und bald auch die Materie und die Körper“ schreibt Virilio im Hinblick auf die Motorisierung des Sehens in den Bewegtbildmedien. (9) Die Beschleunigung der Bilder führe zum Verlust eines konkreten Raum- und Zeitgefühls und erzeuge einen Zustand der Bewusstlosigkeit, eine temporäre absence.  (10)  Interessant ist, dass Virilio an dieser Stelle die etymologische Verwandtschaft von Verschwinden und Schwindel indirekt thematisiert, indem er das Ephemere, Flüchtige der Bilder mit einer Form der Wahrnehmung in Beziehung setzt, die jeglicher fixer Orientierungsgrößen beraubt, buchstäblich haltlos wird. Allerdings erscheint seine These einer „Entkörperlichung“ in diesem Zusammenhang gänzlich unakzeptabel. Denn jeder, der im Kino angesichts rasanter Schnittfolgen oder extrem beschleunigter Kamerafahrten schon einmal von Schwindelgefühlen befallen wurde, weiss, dass gerade der Schwindel eine eminent physische Sensation ist.

Beim Gang durch die Ausstellung fällt eine ganze Reihe von Arbeiten ins Auge, in denen Bewegung und Geschwindigkeit explizit verhandelt werden. Häufig spielen dabei die Wahrnehmung des urbanen Raums sowie das Auto als zeitgenössisches Vehikel zum Durchqueren von Räumen und Zeiten eine Rolle. Im Unterschied zu Virilios Hochgeschwindigkeits-Szenarien jedoch wird die alltägliche Dynamik zeitlicher Abläufe hier durch Schnitt und Montage, durch Verfahren der Wiederholung und seriellen Reihung tendenziell außer Kraft gesetzt bzw. in rhythmisch organisierte Bildstrukturen überführt.

In 84 Blöcke von Baris Hasselbach reihen sich Hochhäuser und typische Berliner Plattenbauten zu einem Defilée beweglicher Objekte und Dominik Busch macht in Mobilistisches Ornament das typische Computerspiel Autorennen zum Ausgangspunkt einer interaktiven Inszenierung. In beiden Arbeiten wird die von Virilio beschworene Dynamisierung des Raumes konterkariert durch eine Rhythmisierung und, speziell in der zweiten Installation, durch eine Ornamentierung des Bildraums. „Entschleunigung“ nennt Laura Geiger die damit verbundenen Effekte in ihrer Installation Die Fahrt ins Blaue, deren Ausgangspunkt aus einem fahrenden Auto gefilmte Landschaftssequenzen bilden.

Eine radikale Form der Entschleunigung präsentieren Simone Häckel und Javier Benitez mit der Installation Reiselust, die mit friedlich grasenden Kühen ein Gefühl von Ruhe und Natur vermittelt oder auch Simon Specht, der mit Parklife eine installative Entspannungshilfe für Großstädter geschaffen hat.

Entspannend und beunruhigend zugleich wirkt die Inszenierung ausserhalb… Mit vier zu einem Rechteck gruppierten Projektionswänden hat Isabelle Schmidt ein Aquarium aus Luft geschaffen. Das lichtdurchflutete Blau des Wassers hüllt den Betrachter ein und läßt ihn trockenen Fußes die Leichtigkeit des schwimmenden Seins erleben. Wären da nicht die riesenhaften Schwimmer. Aus der virtuellen Tiefe auftauchend, zerstören sie die Illusion einer zeit- und ortlosen Schwerelosigkeit und rufen dem Betrachter stattdessen die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen einem „gefühltem“ und einem realen Seinszustand in Erinnerung.

Um die Aufhebung einer linear fortschreitenden, meßbaren Zeit geht es in Cranes von Amy Patton. Hier führen die monoton-repetitiven Gesten des Papierfaltens zu einer Implosion des Zeitgefühls. Eher auf formalästhetische Wirkung setzt demgegenüber Jana Linke in HorizontalTransfer, in der Bewegung als rhythmische Ordnung von Farbflächen erlebbar wird.

Was die eben genannten Arbeiten verbindet, ist eine Konkretion von Zeit. Durch die Reduktion oder Eliminierung gegenständlicher Bezüge zugunsten formalisierter und rhythmisierter Bewegungsabläufe wird Zeit jenseits der Vorstellung einer linear fortschreitenden Uhren-Zeit sichtbar und physisch erfahrbar. In ihrer wahrnehmungsästhetischen Ausrichtung zeigen die Arbeiten damit die Rückgewinnung eines Terrains an, von dem Virilio glaubte, dass es im Zeitalter permanenter Beschleunigung zwangsläufig verloren gehe: Die Beziehung von Körper und Sehen.

Vielleicht kann in dieser körperlichen Dimension überhaupt das charakteristische Element der formal und thematisch durchaus sehr unterschiedlichen Beiträge der Ausstellung gesehen werden. Sie alle antworten auf die zeitgenössische Rede vom Verschwinden mit bildnerischen Inszenierungen, die mit den Topoi von Zeit und Bewegung zeitgenössische Wahrnehmungskonventionen reflektieren und zugleich die Frage nach der Wahrheit des Bildes stellen. Dabei verdeutlichen sie, dass die mithilfe der elektronischen Darstellungstechniken entworfenen Sichtbarkeiten nicht so sehr ein Verschwinden (von was auch immer) beinhalten, sondern weit eher Veränderungen in der Art und Weise anzeigen, wie Bilder wahrgenommen werden. Bilder sind nicht nur für das Auge gemacht, sie evozieren komplexe physio-psychologische Erfahrungen und konturieren damit unser Empfinden von Wirklichkeit.

Exemplarisch veranschaulicht dies die Videoinstallation Chateau de… von Nikolas Moeller, die hier abschließend genannt werden soll. Das Bild einer leeren Schaukel beschreibt den Blick eines Erwachsenen auf die Spielwelten der Kindheit. Die in der Darstellung markierte Leere steht einerseits für Vergangenheit aber auch für eine Zeit der Erinnerung und des (melancholischen) Rückblicks auf die verschwundene Kindheit. Die leere Schaukel „füllt“ sich im Akt der Betrachtung mit je individuellen Gedanken, Imaginationen und Kindheitsbildern. Auch hier zeigt sich das Verschwinden also als eine Form des Erscheinens, ein Erscheinen, das mit der leicht ausschwingenden Schaukel zugleich eben jenen Schwindel evoziert, von dem in diesem Text gleichfalls die Rede war…“

(1) Hermann Glaser, Das Verschwinden der Arbeit: die Chancen der neuen Tätigkeitsgesellschaft, Düsseldorf, Wien, New York 1988.
(2) Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1986.
(3) Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt/M. 1983.
(4) Hartmut Hentig, Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit, München 1985; vgl. hierzu auch Baudrillards Thesen von der Ersetzung der Realität durch Simulacren, Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991.
(5) Michel Foucault prognostizierte am Schluss seiner Studie Die Ordnung der Dinge eine Zeit, in der „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“, Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge , Frankfurt/M. 1993, S.462.
(6) Hier zitiert nach Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M. 1990, S.130f.
(7) Anthony Aziz und Sammy Cuccher, Nachrichten aus Distopia, in: Kunstforum International, Bd. 132, S.173.
(8) Jean Baudrillard, Agonie des Realen, Berlin 1978.
(9) Paul Virilio, Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986, S.56.
(10) Ebenda, S.117.“

Text: Anja Osswald