Filmversion, 2022
Simulation 5-Kanal-Installation
Thingstätte Herchen
Thingstätte Brückenkopf Jülich

Thingstätten

2019 bis heute

Work in Progress

-Mehrkanal-Installation mit unterschiedlich großen Monitoren, Installationsmaße variabel,
-Filmversion
-Fotografie

Ohne Ton
Aufnahmeformat: 4K
Drohnenkamera: Ruben Cissé, Frank Brauer, Nils Dünwald, Felix Gemein, Michael Roth
Postproduktion: Till Beckmann, Anne Braun

Gefördert
-durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien,
NEUSTART Kultur,
Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler.


-Stiftung Künstlerdorf Schöppingen, Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

Geplant sind ca. 60 Filme von allen ehemaligen Thingplätzen in Deutschland.

In ganz Europa nehmen die Wählerstimmen für rechtsradikale Positionen zu. Nach der ungeheuren Katastrophe, die die Nationalsozialisten im letzten Weltkrieg über die Welt gebracht haben, ist diese Faszination kaum nachzuvollziehen. Besonders erschreckend aktuell ist sie im kriegerischen Russland zu beobachten.
Um mehr zu verstehen, möchte ich am Beispiel der nationalsozialistischen THINGSTÄTTEN einen Aspekt der damaligen Propaganda untersuchen, die Orte der Verführung.
In ganz Deutschland wurden in den 30er Jahren Thingstätten errichtet, theaterähnliche Versammlungsorte, die vom Naziregime zur Verbreitung seiner Ideologie gebaut wurden. Unter geschichtsverfälschendem Rückgriff auf altgermanische Traditionen fanden auf ihnen Theateraufführungen und Propagandaveranstaltungen statt . Diese sollten ein emotionales Aufgehen des Einzelnen in Heimat und Volksgemeinschaft erleben lassen. Deswegen wurden als Thingstätten vor allem landschaftlich beeindruckende Plätze gewählt: stimmungsvolle Orte umgeben von Wäldern, an Gewässern, in Hügeln oder natürliche Felsen eingebettet, an Ruinen oder anderen Spuren der örtlichen Geschichte.
In germanischer Zeit war ein Thing bzw. Ding die Volks- und Gerichts-Versammlung. Sie behandelte die Rechtsangelegenheiten und fand immer unter freiem Himmel statt. Die Nazis missbrauchten die Idee der Thing-Versammlungsplätze für Inszenierungen des Führerkults.
Von 1933 bis zum Ausbruch des Krieges 1939 waren bis zu 400 Thingplätze in Planung oder begonnen. Fertiggestellt wurden ca. 60 Freilichtbühnen. Von der Mehrzahl weiß man heute den Ort, viele werden noch genutzt für Konzerte und Theateraufführungen.
Die filmische Annäherung an diese Orte geschieht aus der Luft. Mit einer Kameradrohne wird eine Fahrt senkrecht über dem Thingplatz gestartet, man sieht die ganze Umgebung, die Kamera nähert sich langsam, sie dreht sich um die eigene Achse, bis der Platz das Bild ausfüllt. Das sich wie eine Spirale drehende Bild lässt einen Sog entstehen. Er ist bildlicher Ausdruck für die Verführung und Agitation der Bevölkerung durch den Nationalsozialismus.

„Die Zukunft liegt in der Vergangenheit.
Eine Baumlandschaft aus der Vogelperspektive, eine gepflasterte Fläche aus der Luft, eine Tribüne mit Unkraut in den Ritzen. Manchmal kreuzt irgendwo eine Straße. In kreisenden Bewegungen nähert sich die Kamera dem Erdboden. Die um die eigene Achse rotierende Landschaft bringt das Hirn durcheinander,  produziert Schwindel. Die Videokünstlerin Maria Vedder wirbelt etwas auf: geschichtete Geschichte. Was zu sehen ist, wirkt banal und geheimnisvoll zugleich. Orte der Verführung.
Zwischen 1933 und 1937 haben die Nationalsozialisten in ganz Deutschland Freilichtbühnen errichtet. Diese sogenannten Thingstätten wurden für Propagandaveranstaltungen und Aufmärsche genutzt. Hier schleuderten Hitler, Himmler und Göbbels ihre Parolen hinaus, Zehntausende hörten zu. Immer in beeindruckender Landschaft, umgeben von Bäumen, eingebettet in Hügel oder im Schatten mächtiger Felsen. An manchen Orten standen Ruinenreste, was die mystische Stimmung verstärkte. Völkische Massentheaterstücke mit großen Chören wurden eigens für diese Bühnen geschrieben. Im Rückgriff auf eine altgermanische Tradition nannte man sie „Thingspiele“. Bei diesen Spektakeln unter freiem Himmel sollten Emotionen frei werden, Menschen sollten ihre Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft spüren. Die Kundgebungen sollten den Führer-Kult festigen, stimmten ein auf einen Krieg, in den es sich fürs Vaterland zu ziehen lohnt. Maria Vedder begibt sich in ihrer Installation auf die Spuren der bisher wenig bekannten Geschichte der Thingstätten.
Bis zu 400 Thingplätze waren in den 1930er Jahren in Planung. Es war das größte Freilichttheater-Bauprogramm seit der Antike, schuf Arbeitsplätze im Kultur- und Baugewerbe. Fertiggestellt wurden 60 Bühnen überwiegend in Deutschland, manche in Russland und Polen. Joseph Goebbels hat sich von dem Konzept bald distanziert. 1935 verbot er den Begriff „thing“, fortan wurden die Theater Feierstätte, Weihestätte oder Freilichtbühne genannt. Die Form des mystischen Singspiels erschien Goebbels nicht mehr modern genug. Stattdessen wendete er sich den neuen Medien zu, wählte Radio und Film, um die Massen zu agitieren.
Maria Vedder hat bisher 12 Thingstätten in Nordrhein-Westfalen, Berlin, Sachsen-Anhalt und Brandenburg gefilmt. Ihr Ziel ist es, alle Thingstätten in Deutschland zu dokumentieren. Der Künstlerin geht es um die Wirkmacht der Propaganda. Dahinter steht eine einfache Frage: Woher kommt die Faszination für rechtes Denken und faschistische Ideologien? Trotz der Katastrophe, die die Nationalsozialisten im zweiten Weltkrieg ausgelöst haben, nehmen die Wählerstimmen für rechtsradikale Parteien in ganz Europa zu. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine zeigt auf tragische Weise, dass die Idee vom großen, starken Volk, das es zu einen gilt und sei es im blutigen Kampf, immer noch verfängt.
Von der Mehrzahl der damaligen Thingplätze ist bekannt, wo sie sich befinden. Einige sind berühmt, wie die Berliner Waldbühne, die auf Anordnung Hitlers zur Olympiade 1936 auf dem Olympiagelände gebaut wurde. Oder das Kalkbergstadion in Bad Segeberg, wo seit 1952 jährlich die Karl-May-Spiele stattfinden. Viele ehemalige Thingstätten werden noch für Konzerte und Theateraufführungen genutzt. Andere sind überwuchert, zerstört oder verschwunden.
Maria Vedder, die für frühere Videoarbeiten manchmal eigene bühnenähnliche Situationen inszenierte und mehrfach mit dem Motiv des Kreises arbeitete, praktiziert in diesem Werk eine künstlerische Form der Erinnerungskultur. Sie analysiert mit filmischen Mitteln, wie die Vergangenheit in der Gegenwart wirkt, selbst wenn sie unbekannt, vergessen oder verdrängt ist. Beim Anblick der runden Arenen mit ihren steinernen Rängen wird heute noch eine besondere Energie spürbar, selbst, wenn sie nur noch als Reste existieren. Die Kombination aus Architektur, Landschaft, Raum, Bewegung und Licht, wie sie auch Leni Riefenstahl in ihren Bildern verwendete, packt uns jenseits der Vernunft. Durch die kreisende Drohne, die systematisch, stets senkrecht über dem Zentrum der jeweiligen Stätte auf- und absteigt, vermeidet die Künstlerin die Möglichkeit von Identifikation und Überwältigung. Der Blick der Kamera ist neutral, ihre Bewegung ist es hingegen nicht. Der optische Sog, den sie auslöst, steht symbolisch für den Taumel der Verführung.
Mit ihren filmischen Spurensuche wirbelt Maria Vedder auch tieferliegende Schichten der Vergangenheit auf. Die schwindeligen Bilder lenken den Blick auf die altgermanische Thing-Tradition, die sich die Nationalsozialisten angeeignet und in ihrem Sinne verdreht haben. Eine Thingstätte war ursprünglich ein Ort, an dem politische Beratungen stattgefunden haben und Recht gesprochen wurde. Als Thing oder Ding wurden Volksversammlungen und Gerichtsverhandlungen unter freiem Himmel bezeichnet. Das schlägt sich in der Sprache bis heute nieder. Das Wort „Sache“ leitet sich etymologisch von der in Gerichtsversammlung behandelten „Rechtssache“ ab. Worte wie unbedingt oder jemanden dingfest machen haben im Begriff „thing“ ihren Ursprung. „Althing“ wird das Parlament Islands genannt. In Norwegisch ist „Tinghus“ ein Gerichtsgebäude.
So schließt sich der Kreis. Einmal in Bewegung versetzt, bleiben die gefilmten Orte in Maria Vedders Werk in ständiger Agitation. Sie werden dingfest gemacht.“
Birgit Rieger 10/2022

Für weitere Informationen:
Katharina Bosse